Samstag, 29. Mai 2010

Sind die da anders?

Ende August dachte ich, wäre ich in Kolumbien angekommen. Inzwischen sind über acht Monate vergangen und ich merke, dass ich so etwas zu diesem Zeitpunkt nicht hätte behaupten sollen.






Während ich meinen Alltag lebte, haben mich doch so viele Sachen verwundert bis sogar gestört; Allein das Essen. Bei dem Blick in die Speisekarte musste ich mich so oft fragen, will ich das wirklich essen? Wieso kombiniert man das denn? Wozu muss man das denn frittieren? Da ist doch nicht wirklich Käse im Kakao, oder?


Einem bleibt halt nichts anderes übrig als zu essen und an manche Sachen gewöhnt man sich, lernt sie vielleicht sogar lieben und bei anderen vergisst man jedenfalls nie wieder die Vokabel und einen Bogen darum zu machen. So wie mich vieles in diesem Bereich kritisch gestimmt hat, hat mich anderes total fasziniert. Eine unglaubliche Vielfalt an Früchten, von denen man in Deutschland nur zu träumen wagt, viel intensivere Geschmäcke und immer frisch und in jeglichen Varianten.

Dafür aber auch die Erkenntnis, dass es nicht immer alles gibt. Manches ist einfach ausverkauft, vergriffen und dann muss man sehen wie man den geplanten Apfelkuchen ohne Äpfel macht. Man lernt umzudisponieren und sich nicht durch kleine Zwischenfälle aus der Ruhe bringen zu lassen.
Na ja oder es gibt das Gewünschte, man sitzt nur einfach im Restaurant und wartet gefühlte Jahre bis man bedient wird. Bei dieser Gelegenheit habe ich ein neues Wort gelernt: „Pflichtvergessenheit“. Ein zusätzlicher Punkt, die Unpünktlichkeit, das war glaube ich das größte Problem für mich. Dieses Gefühl sich auf niemanden verlassen zu können oder anderen einfach egal zu sein hat mich sehr beschäftigt. So viele Male habe ich meine Zeit mit Warten auf Andere verbracht.
Aber nicht nur, dass man allein vor verschlossener Türe sitzt, niemand öffnet, noch irgendjemand weit und breit zu sehen ist, nein, man wird dann auch noch beobachtet. Ja sogar angestarrt, weil man weit und breit die blondeste, blauäugigste und größte Frau ist. Sprüche wie „Ah guck mal die Gringa sitzt da total hilflos und kann wahrscheinlich kein Wort Spanisch“ sind zum Standart geworden, doch trotzdem fühlt man sich ziemlich alleine und fragt sich, wo die aus Deutschland gewohnte Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Ausländern und die Höflichkeit diesen gegenüber ist.
Aber genau wie in jedem Land, kann man von ein paar ungebildeten und unwissenden Menschen nicht auf jeden schließen. So oft wie ich auch abschätzig behandelt wurde, weil ich aus dem Ausland komme, so unbeschreiblich hilfsbereite, interessierte und großzügige Menschen habe ich getroffen. Leute, die einen in ihr Haus aufnehmen, alles mit einem teilen, völlig kompromisslos und ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
So oft wurde ich in diesem Jahr gefragt, was denn der Unterschied zwischen Deutschland und Kolumbien sei und was ich besser oder schlechter fände. All meine Erfahrungen zeigen mir, dass es Unterschiede gibt. Die Frage ist nur, ob wir das Recht haben darüber zu urteilen.
Am besten kann ich das an dem Beispiel des Familienlebens erklären. Ein kolumbianischer Freund meinte zu mir, dass er uns beneide, da wir mit unserer Volljährigkeit ein großes Stück Unabhängigkeit und Freiheit gewännen. Selbst wenn sie heiraten, ausziehen und Kinder kriegen würden hätten ihre Eltern immer noch einen unbeschreiblichen Einfluss und Mitbestimmungsrecht.
Das hat mir zu Denken gegeben. Keine Chance auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Wie unvorstellbar einengend sich das anhört. Dafür ist der Familienzusammenhalt viel stärker. Man hat immer schützende Hände um sich, die einen auffangen, wenn man nicht mehr kann, Vorbilder, die sich für einen einsetzen und aufopfern, immer Türen, die einem bedingungslos offen stehen und Leute, denen man blind vertrauen kann. Aber meine Familie funktioniert auch so gut, ohne diese Kontrolle, ohne Abhängigkeit, auch wenn ich mich irgendwann ein wenig ablösen werde. Klar verliert man ein wenig Nähe mit dem älter und selbstständig werden, aber das ist in Ordnung, eben normal für mich.
Genau: FÜR MICH!
Ich, die in Europa, in einer gut situierten Familie aufgewachsen ist, in einer Welt mit Arbeitslosen-, Renten- und Unfallsversicherung... Doch nur, weil mich all das geprägt hat, ist mein Familienbild denn richtig oder gar besser?
Was auch immer für Unterschiede vorliegen und was für verschiedenste Lösungswege gelebt werden, ich habe nach fast neun Monaten angefangen hier wirklich zu leben. Ich sehe vieles ohne darüber zu urteilen, nicht schlechter, nicht besser, vieles ist einfach anders. Für mich ist es sehr deutlich geworden, dass mir auch nach langer Zeit in einem Land das Urteilsvermögen fehlt, da ich nicht unter den gleichen Umständen groß geworden bin. Ich habe durch all diese Faktoren gelernt, was ich wirklich schätze, was mir wichtig ist, doch vor allem nicht zu generalisieren und gewisse Dinge auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen.